XI


«Es ist eine Verballhornung, verstehen Sie?» Pfarrer Denzil Smith zeigte auf eine Abbildung in einem Buch über Wirtshausschilder. Das Buch lag aufgeschlagen auf einem kleinen Tisch zwischen Jury und Plant; daneben stand ein Teller mit Sandwiches und Bier, das die Haushälterin für sie bereitgestellt hatte. Jury betrachtete die Abbildungen und war beeindruckt von der Phantasie des Schildermalers oder der Person, die sich Schwäne mit zwei Hälsen ausgedacht haben mochte.

«Früher», fuhr der Pfarrer fort, «wurden den königlichen Vögeln kleine Rillen in die Schnäbel geritzt. Soviel ich weiß, pflegten die Mitglieder der Londoner Weinhändlerzunft das auch zu tun, um ihre Schwäne von den übrigen zu unterscheiden. Es müßte also eigentlich der Schwan mit den zwei Rillen heißen. Was Sie hier sehen, ist das Werk eines ungebildeten Schildermalers, der nicht richtig lesen oder schreiben konnte und nick mit neck verwechselt hat.» Zufrieden lehnte sich der Pfarrer zurück, nachdem er sich noch ein halbes Käse-Gurken-Sandwich genommen hatte.

«Großer Gott», sagte Jury immer noch auf das Bild starrend, «der Mörder hat also Creed mit zwei ‹Rillen› markiert –»

«Das nehme ich an», sagte der Pfarrer. «Die Schnitte waren auf der Nase, nicht?»

«Aber warum, um Himmels willen?» sagte Plant. «Nur um seinen Spaß zu haben?»

Jury zündete sich eine Zigarette an. «Seinen Spaß? Ich denke nicht. Wahrscheinlich wieder ein Ablenkungsmanöver.»

Der Pfarrer hatte nicht die Absicht, sogleich wieder abzutreten, nachdem er einen Augenblick lang im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte. «Es gibt noch andere Beispiele dafür – ich meine für diese Art von Verballhornungen. Am Ortsausgang von Weatherington steht der Gasthof Zum Bullen und Maul. Können Sie sich vielleicht denken, wie dieser Name zustande kam?» Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: «Das Schild sollte an die Einnahme des Hafens von Boulogne durch Heinrich VIII. erinnern, verstehen Sie? Mouth steht für Hafen. Boulogne Mouth.» Der Pfarrer setzte seine Brille wieder auf.

Jury wollte ins 20. Jahrhundert zurück, fühlte sich jedoch verpflichtet, sich diesen Exkurs anzuhören, da er von dem Pfarrer etwas erfahren hatte, was er sonst nie erfahren hätte.

«Wußten Sie, daß Hogarth das ursprüngliche Schild für Die Büchse der Pandora gemalt hat? Es gibt mehrere Gasthöfe mit diesem Namen. Aber Zur Glocke ist natürlich ein viel häufigerer Name – muß über fünfhundert davon in England geben. Schwäne mit zwei Köpfen ist schon seltener, obwohl es auch einen in Cheapside gibt – ein Schild an einer langen Eisenstange, wie das Schild des Weißen Herzens in Scole. Es kostete über 1000 Pfund, dieses Schild, und das im Jahr 1655. Ist das nicht unglaublich? Diese Schilder hingen weit über die Straße und fielen immer wieder herunter und erschlugen irgendwelche Passanten. Etwas außerhalb von Dorking gibt es einen Sack voll Nägel, ein sehr häufiger Name. Ich glaube, ursprünglich hieß das Zum Teufel mit dem Sack voll Nägel, ein sehr interessanter Name –»

Jury hielt es nicht mehr aus und versuchte die Aufmerksamkeit des Pfarrers von etymologischen Spitzfindigkeiten und Wirtshausschildern, die den Leuten auf die Köpfe fielen, auf ihre eigenen, etwas aktuelleren Probleme zu lenken. «Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Auskünfte, Herr Pfarrer. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von uns – ich meine von der Polizei – jemals darauf gekommen wäre.» Der Pfarrer strahlte. «Sie waren doch auch am Donnerstagabend in der Pandorabüchse? Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.»

«Entsetzlich, einfach entsetzlich.» Seine Schilderung des Abends, an dem Small ermordet worden war, enthielt jedoch noch weniger Details als die der andern Gäste. Zwischen neun und zehn hatte der Pfarrer mit Willie Bicester-Strachan Dame gespielt. «Daß so etwas in Long Piddleton passieren kann! Ich bin nun schon seit 45 Jahren hier. Angefangen habe ich als Stellvertreter des früheren Pfarrers. Meine Frau – Gott segne sie – starb vor neun Jahren. Danach hat mich Mrs. Gaunt recht gut versorgt, sie und die jeweiligen Hausangestellten, Ruby zum Beispiel.» Sein Gesicht nahm einen etwas ratlosen Ausdruck an. «So lange wie diesmal war Ruby noch nie weg.»

«Ja, was diese Ruby Judd betrifft – soweit ich informiert bin, müßte sie eigentlich schon längst wieder zurück sein. Wann genau ist sie denn gefahren?»

«Letzten Mittwoch, soviel ich mich erinnere – mein Gott, eine Woche ist das nun schon her. Wie die Zeit vergeht! Sie hat mich gefragt, ob sie sich ein paar Tage freinehmen dürfe, um ihre Familie in Weatherington zu besuchen.»

«Aha. Gibt es irgendwo ein Foto von Ruby? In ihrem Zimmer vielleicht?»

Verwirrt blickte ihn der Pfarrer an. «Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht weiß es Mrs. Gaunt.» Er rief Mrs. Gaunt herein, eine hagere, unglücklich aussehende Frau, die ihrem Namen alle Ehre machte, und bat sie, in Rubys Zimmer nach einem Foto zu suchen.

Mrs. Gaunt gab ein paar gutturale Laute von sich, die an jeden von ihnen gerichtet sein konnten, und zog sich zurück.

Mr. Smith senkte die Stimme zu einem Flüsterton, als hätte er ein wenig Angst vor ihr. «Mrs. Gaunt ist nicht gerade zufrieden mit Ruby. Sie sagt, sie sitze nur herum und lese Filmzeitschriften. Gaunt hat sie auch schon mal dabei erwischt, wie sie in einem Kirchenstuhl herumlungerte, statt die Kirche zu fegen.»

«War sie denn sehr fromm?» fragte Jury.

Der Pfarrer kicherte. «Wohl kaum. Sie lackierte sich die Fingernägel.»

Der alte Mann schien selbst nicht übermäßig fromm zu sein. Rubys Benehmen amüsierte ihn offensichtlich nur.

Mrs. Gaunt kam im Laufschritt zurück; sie hatte die Lippen zusammengekniffen und hielt zwei Schnappschüsse in der Hand. «Sie steckten am Spiegel.» Das klang, als hätte sie unanständige Pinup-Fotos gefunden. Sie rümpfte die Nase und ging.

Der Pfarrer gab sie Jury. «Sie denken doch nicht, daß Ruby etwas zugestoßen ist, oder? Sie sollten mit Daphne Murch sprechen. Sie und Ruby sind ungefähr gleichaltrig und dicke Freundinnen. Die kleine Murch hat mir Ruby übrigens empfohlen.»

Jury steckte die Schnappschüsse in seine Brieftasche. «Sie scheinen sich keine großen Sorgen um sie zu machen, Herr Pfarrer. Ist sie schon öfters verschwunden?»

«Ja, ein- oder zweimal. Ich nehme an, sie hat irgendwo einen Freund, vielleicht in London. Ruby ist schon in Ordnung. Nur etwas leichtsinnig, wie so viele in ihrem Alter.»

Jury wechselte das Thema. «Sie sind mit Mr. Bicester-Strachan befreundet. Ich weiß, Sie werden nicht über Vertrauliches sprechen wollen, aber vielleicht könnten Sie mir etwas weiterhelfen, was diese Sache in London betrifft …?» Jury fügte nicht hinzu, daß er über ‹diese Sache› überhaupt nichts wußte. Er rechnete damit, daß die Klatschsucht des Pfarrers die Oberhand gewinnen würde, und er wurde nicht enttäuscht, obwohl Smith sich lange genug zierte. Er nuschelte irgend etwas und machte sich dann ans Erzählen. «Bicester-Strachan hatte keinen sehr wichtigen Posten im Verteidigungsministerium. Eines Tages kam es zu diesem, hm, Zwischenfall: Anscheinend waren irgendwelche Informationen in die falschen Hände geraten, Dinge, über die nur Bicester-Strachan und ein paar andere Bescheid wußten. Er wurde jedoch nie zur Verantwortung gezogen; soviel ich weiß, ließ sich auch nichts beweisen. Er spricht nicht gern darüber, wie Sie sich denken können. Aber es erklärt seine frühe Pensionierung. Bicester-Strachan ist nicht so alt, wie er aussieht. Er ist knapp über sechzig, obwohl man ihn auf achtzig schätzen könnte, und das kommt sicher von dem Schock, den ihm diese Geschichte versetzt hat.» Pfarrer Smith lehnte sich zurück und verkündete feierlich: «Agatha glaubt, daß die Kommunisten dahinterstecken, und vielleicht hat sie recht damit.»

Melrose Plant, der die ganze Zeit geduldig geschwiegen hatte, konnte sich nicht mehr zurückhalten. «Und wie stellt meine Tante sich das vor?»

Der Pfarrer dachte kurz nach. «Ehrlich gesagt, das weiß ich auch nicht. Agatha ist ja so verschlossen.»

«Verschlossen?» Es war das erste Mal, daß jemand seiner Tante das nachsagte.

«Hmmm. Wir entwickelten unsere Theorien, und sie dachte, daß bei Bicester-Strachans Vergangenheit … nun ja, möglich ist alles. Sie könnten es doch auf ihn abgesehen haben, oder?»

«Wie gut kennen Sie Mr. Darrington?» fragte Jury und versuchte ihn von Doppelagenten und ähnlichem abzulenken.

«Nicht besonders gut. Nicht gerade ein fleißiger Kirchgänger, dieser Darrington. Er hat für einen Londoner Verlag gearbeitet. Daß der Kriminalromane geschrieben hat, ist Ihnen wohl bekannt?» Seine nächste Bemerkung schien er offensichtlich zu genießen: «Manchmal habe ich ja meine Zweifel, ob diese Miss Hogg wirklich seine Sekretärin ist, wie er behauptet.»

«Daran zweifeln wir gelegentlich alle», sagte Melrose.

Pratts Bericht zufolge war der Pfarrer an dem Abend, als Ainsley ermordet wurde, nicht in der Hammerschmiede gewesen. Trotzdem fragte ihn Jury: «Waren Sie am Freitagabend zufällig in der Nähe der Hammerschmiede?»

Der Pfarrer schien beinahe enttäuscht, ihm antworten zu müssen: «Nein, leider kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Ungewöhnlich, diese Figur des Schmieds. Es gibt nur noch eine ähnliche, und zwar in –»

Jury unterbrach ihn. «Diese Sache mit den Rillen, die ist doch den wenigsten bekannt. Haben Sie davon schon andern hier in der Gegend erzählt?»

Der Pfarrer errötete. «Ich muß gestehen, daß es mir die Geschichten der alten Gasthöfe besonders angetan haben. Bestimmt habe ich auch mit dem einen oder dem andern darüber gesprochen. Ich könnte aber nicht mehr sagen, mit wem.» Von seinem bequemen, mit Chintz überzogenen Sessel aus blickte er zur Decke. «Es sind nicht die ersten Morde in einem Gasthof. Es gab da den Straußen von Colnbrook –»

Melrose Plant unterbrach ihn hastig. Er hatte nicht die Absicht, sich noch einmal die Falltürgeschichten anzuhören. «Ich glaube, Inspektor Jury sieht da keinen direkten Zusammenhang, Hochwürden.»

«Nun, ich glaube jedenfalls nicht, daß Matchett oder Scroggs etwas mit diesen schrecklichen Todesfällen zu tun haben … obwohl diese Geschichte mit Matchetts früherer Frau … Daß die Vergangenheit sich auch nie begraben läßt!» Er warf Jury einen kurzen Blick zu, offensichtlich in der Hoffnung, in dieser Ecke ein kleines Feuer gelegt zu haben. «Verbrechen aus Leidenschaft, etwas in dieser Richtung. Matchett stand einer Dame nahe –»

Jury lächelte. «Die Polizei war damals überzeugt, daß Mr. Matchett nichts mit dem Mord zu tun hatte.»

«Aber sie fanden nie heraus, wer es war», sagte Smith, der Jury einen so saftigen Happen erst einmal gründlich durchkauen sehen wollte, bevor er ihn schluckte.

«Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, bei wie vielen Morden wir die Ermittlungen einstellen müssen, ohne den Täter ausfindig gemacht zu haben. Es kann schon enttäuschen, wie wenig effizient die Polizei im Grunde ist.» Als der Pfarrer errötete, erhob sich Jury. «Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe, Sir. Leider muß ich mich jetzt wieder auf den Weg machen.»

Als er mit Plant auf der Straße stand, nahm sich Jury einen Augenblick Zeit und bewunderte das prächtige Fenster auf der Ostseite der Kirche mit seinem netzartigen Maßwerk.

«Wenn Sie hineingehen wollen …» sagte Plant.

Jury schüttelte den Kopf. «Ein ernster Ort auf einer ernsten Welt.»

Sie blickten beide zu dem Glockenturm hoch, dessen Schallbretter schräg gestellt waren, um den Ton bis zum höchsten Punkt ansteigen zu lassen. Plant fragte: «Interessieren Sie sich für Lyrik, Inspektor?»

Jury nickte.

«Ich traf Vivian, als sie zur Polizeiwache ging, um mit Ihnen zu sprechen. Sagen Sie, was halten Sie von ihr?»

Jurys Blick wanderte von dem Glockenturm zu einem faszinierenden kleinen Zweig zu seinen Füßen. «Oh», er zuckte die Achseln, «sie scheint … eine ganz angenehme Person zu sein.»

Mrs. Jubal Creed traf kurz nach vier auf der Polizeiwache in Weatherington ein und wurde sofort in die Leichenhalle des Kreiskrankenhauses gebracht, um die sterbliche Hülle ihres Gatten zu identifizieren. Als sie zurückkam, war ihre Gesichtsfarbe nicht unbedingt fahler als vorher; Mrs. Creed hatte nämlich einen so fahlen Teint, daß man den Eindruck gewann, die Natur habe bei ihr an allen Farben außer an einem schmutzigen Beigegrau gespart. Ihre Figur war genauso unglücklich: eine Vogelscheuche in altmodischen, schlechtsitzenden Kleidern.

Nur als sie den vollen Namen ihres Mannes angab, erwähnte sie auch seinen Vornamen, danach war er für sie ausschließlich Mr. Creed.

Das Taschentuch gegen den Mund gepreßt – einen Mund, der wie ausgeschnitten wirkte –, blickte sie Oberinspektor Jury aus trüben Augen an, während sie seine Frage nach Creeds Stellung beantwortete: «Mr. Creed war seit fünf Jahren pensioniert; vorher war er bei der Polizei von Cambridgeshire. Ein Posten, dem er nicht nachgetrauert hat.»

«Fühlte er sich denn schlecht behandelt?»

«Das kann man wohl sagen. Er wurde nie befördert und endete als Kriminalwachtmeister in Wigglesworth. Kein Wunder, daß er verbittert war.» Ihr mißbilligendes Schnauben galt der Polizei im allgemeinen und Jury und Wiggins, die ihr in dem kahlen Raum des Polizeireviers von Weatherington gegenübersaßen, im besondern.

«Mrs. Creed haben Sie eine Ahnung, ob es jemanden gab, der, äh, der ihm übelwollte?»

Sie schüttelte heftig den gesenkten, zwischen den Händen vergrabenen Kopf. Jury hatte nicht den Eindruck, als sei sie von ihren Gefühlen überwältigt; die Ehe der Creeds hatte wohl bestenfalls auf dem Papier bestanden. Obwohl über jeden Tadel erhaben, schien ihm Mrs. Creed nicht gerade eine Frau von tiefen Gefühlen zu sein.

«Sie wissen nicht, ob er irgendwelche Feinde hatte?»

«Nein. Wir haben sehr zurückgezogen gelebt, Mr. Creed und ich.»

«Hat er sich während seiner Arbeit die Feindschaft bestimmter Leute zugezogen?»

«Nicht, daß ich wüßte.»

Für Jury waren diese Fragen nur Routine, denn instinktiv wußte er schon, daß nichts dabei herauskommen würde. Er glaubte nicht, daß Creeds Tod sich durch irgendwelche dunklen Punkte in seiner Vergangenheit erklären ließe. Jury entnahm einem braunen Umschlag ein Foto von William Small, für das man ihn etwas hergerichtet hatte, trotzdem bot er keinen erfreulichen Anblick. «Mrs. Creed, kennen Sie diesen Mann?»

Sie schaute es sich an, wandte sich dann aber schnell wieder ab und schüttelte den Kopf.

«Sagt Ihnen der Name ‹William Small› etwas?»

Ungeweinte Tränen verschleierten ihre Augen, aber trotz der längeren Pause bezweifelte Jury, daß sie ernsthaft nachdachte. «Nein, dieser Name sagt mir überhaupt nichts.» Auf das Foto von Ainsley, das auch in den Zeitungen erschienen war, reagierte sie genauso. Aber dann schaute sie es noch einmal genauer an. «Moment mal, ist das nicht ein Foto von diesem Mann, der kürzlich ermordet wurde – warten Sie – wurden sie nicht beide hier in der Gegend ermordet – wie hieß der Ort schon wieder?»

«Long Piddleton. Ungefähr 40 Kilometer von hier.»

Fassungslos starrte sie ihn an: «Wollen Sie mir erzählen, daß Mr. Creed da auch ermordet wurde? Ein Massenmörder läuft frei herum, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als mir dumme Fragen zu stellen?»

Inzwischen hatte die Polizei von Cambridgeshire einen genauen Bericht über Creeds Laufbahn geschickt – eine Karriere, die ziemlich schnell im Sand verlief, wie Superintendent Pratt erklärte. «Es gibt eine Art von Absahnen, die noch toleriert wird. Und dann gibt es das, was Creed praktiziert hat: Er kassierte von bestimmten Werkstätten eine Kommission dafür, daß er ihnen Unfallautos zum Reparieren besorgte. Hätte es sich nur um billige Reparaturen für sein eigenes Auto gehandelt, dann härten seine Vorgesetzten vielleicht noch ein Auge zugedrückt. Hier und da ein freies Essen wäre auch noch durchgegangen. Tun wir doch alle. Ich hätte heute gern ein Pfund für jede kostenlose Mahlzeit, die ich mir von den Restaurants anbieten ließ, wenn ich auf Streife war. In Creeds Fall war es zwar auch noch keine echte Bestechung, aber doch schon sehr nahe daran. Er machte ein nettes kleines Geschäft nebenbei, auf den Kopf gefallen war er nicht. Trotzdem ließen sie ihn ‹in den Ruhestand› treten. Wir haben jedenfalls mal seine früheren Kollegen nach seiner jetzigen Tätigkeit gefragt, sie hatten aber keine Ahnung. Creed war eine Null, ein Nichts. Und kein besonders guter Polizist, auch nicht unter den besten Voraussetzungen. Höchst unwahrscheinlich, daß er es bis zum Kriminalinspektor gebracht hätte. Nichts weist darauf hin, daß er die beiden andern – Small und Ainsley – gekannt hat.

Seine Kollegen haben überhaupt keinen Kontakt mehr mit ihm.» Pratts lange Beine lagen auf dem Schreibtisch des Polizeibüros. Er trug immer noch seinen schweren Mantel und versuchte, eine uralte Pfeife anzuzünden. «Die Sache ist …» Er zog daran und probierte es mit einem neuen Streichholz. «Die Presse macht uns die Hölle heiß; die Reporter sind hinter mir her wie ein Rudel hungriger Wölfe. Deshalb verbringe ich auch soviel Zeit hier in Northampton. Das hält sie fest, und Sie haben sie nicht auf der Pelle.» Er zog mehrere Male an seiner Pfeife und brachte schließlich ein schwaches Glimmen zustande. «Ich habe alles gelesen, was mir auf den Schreibtisch flatterte, und ich kann nur sagen, daß ich die Geschichte absolut rätselhaft finde. Ich frage mich, ob es sich bei den Morden um Willkürakte handelt oder ob ihnen ein bestimmtes Schema zugrunde liegt.» Pratt kratzte sich mit dem Stiel der Pfeife an dem Vierundzwanzig-Stunden-Bart, der sein Kinn zierte. Ein leichtes Schaben ließ sich vernehmen. «Oder wurden zwei nur begangen, um von einem andern abzulenken? Dem eigentlichen Opfer?»

«Es ist mir auch schon durch den Kopf gegangen, daß das eigentliche Opfer vielleicht noch gar nicht ermordet wurde.»

Pratt blinzelte mit seinen rot umränderten Augen. «Großer Gott, das sind ja schöne Aussichten.» Seine Pfeife war wieder ausgegangen. «Und Sie glauben, daß das einer aus dem Dorf sein wird?»

«Ich weiß nicht. Aber durchaus möglich.»

«Wer auch immer Small ermordet hat, er ist nicht durch diese Kellertür gekommen, das steht fest. In Frage kommen also nur diejenigen, die an jenem Abend in der Pandorabüchse waren.»

«Einer scheidet aus: Melrose Plant, wie ich mit gutem Gewissen behaupten kann. Er hat zwar kein Alibi im Fall von Small und Ainsley, aber es ist kaum anzunehmen, daß es mehr als einen Mörder gibt.»

Pratt kratzte sich wieder am Kinn. «Dann sind wir unserm Ziel ja um einiges näher. Bei seinem nächsten Anruf werde ich Kriminaldirektor Racer sagen, daß Sie beträchtliche Fortschritte gemacht haben. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie frage – hat er eigentlich was gegen Sie? Wenn er auf Sie zu sprechen kommt, dann klingt das immer so bissig.»

«Oh, er klingt immer so», sagte Jury.